Mein Onkel war Koch. Einmal im Jahr kochte er für uns und eine befreundete Familie ein Festmahl. Irmgard, die Freundin meiner Mutter, wollte immer sehr genau wissen, was wir genießen durften. Und mein Onkel war nie verlegen um eine blumige Umschreibung.
An einen Abend erinnere ich mich besonders gut: Es gab zum Hauptgang Geflügel, im Ofen zubereitet in einer besonderen Kräutersauce mit sehr dunkler Farbe und recht dicker Konsistenz. Auch hierfür wollte Irmgard eine genaue Erklärung. Also erklärte mein Onkel, der damals in der Schweiz lebte und arbeitete:
„Wir essen heute Schweizer Moorente. Eine sehr seltene Art der Tauchente, die nur im Winter in der Schweiz lebt. Ich habe sie zubereitet mit den typischen Kräutern der Schweizer Seenlandschaften. Das ist in Schweizer Spitzenrestaurants eine absolute Delikatesse und jeder, der die Luzerner Gegend besucht, sollte unbedingt einmal Schweizer Moorente bestellen. Ihr Fleisch ist besonders zart und ist untermalt von einer besonders würzigen Note, überhaupt nicht vergleichbar mit herkömmlichem Entenfleisch aus dem Supermarkt …“ und so weiter und so fort.
Die Vorstellungskraft isst mit
Das Festmahl war ein wahrer kulinarischer Hochgenuss. Hoch lobten alle die geschmackliche Fülle der Entenzubereitung, die sich gerade mit den typisch Schweizer Kräutern entfaltete. Meine Eltern und unsere Freunde wollten einfach alles über die Schweizer Moorente erfahren.
Erst nach dem Menü klärte mein Onkel uns auf, dass es sich um ganz herkömmliches Hühnchenfleisch handelte, zubereitet mit einer Kräutermischung aus Thymian, Estragon und Petersilie, die besonders intensiv in der Sauce eingekocht wurde. Aber was doch die richtige Geschichte in den Köpfen anrichten kann …
(Übrigens: Die Moorente ist eine höchst seltene Entenart, die in Deutschland auf der Roten Liste der bedrohten Brutvogelarten steht.)
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