Mit der App PhotoMath kann mein Smartphone auf Papier gedruckte Rechenaufgaben verstehen und ziemlich sofort das Ergebnis ausspucken, auf Wunsch mit Lösungsweg. Macht so etwas nicht dumm?
Nein. Nicht wenn man etwas sinnvolles damit anstellt.
Taschenrechner gibt es schon sehr lange. Wer kann heute noch über das kleine Einmaleins hinaus zügig im Kopf rechnen? Die wenigsten. Ich auch nicht.
Früher konnte ich das mal gut. Inzwischen bin ich dabei ziemlich langsam, weil erst mein Taschenrechner und dann mein Smartphone schneller rechnen konnte und ich deshalb ihnen die Aufgabe überlassen habe. Heute muss ich nicht einmal mehr tippen. Entweder frage ich Siri oder ich lasse PhotoMath die Aufgabe lösen (noch erkennt die App keine Handschrift, aber das ist ja nur eine Frage der Zeit).
Aber wir hätten es ja wenigstens gelernt, wenden manche ein. Ja, haben wir. Doch dabei war Verständnis wichtiger als Wissen oder Schnellrechnen. Ich habe verstanden, wie wichtige mathematische Verfahren funktionieren. Deshalb kann ich immer noch jede Aufgabe von Hand lösen, wenn ich es denn wollte oder müsste. Aber mein Smartphone kann es schneller. Bin ich deshalb ein schlechterer Mathematiker? Nein. Denn Rechnen ist nicht Mathematik.
Rechnen bedeutet Regeln anzuwenden. Es ist gerade deswegen prädestiniert für Computer – die ja wörtlich übersetzt „Rechner“ heißen. Wenn prinzipiell einfache, aber potentiell langwierige Aufgaben von Computern schneller als von mir ausgeführt werden können, dann bedeutet das für mich, dass ich mehr Zeit habe, mich mit interessanteren Fragen zu beschäftigen.
Rechnen ist nämlich kein Selbstzweck. Es ist notwendig, um Probleme zu lösen. Wieviel muss ich jeden Monat sparen, um mir in zwei Jahren den Traum zu erfüllen? Hält die Brücke? Wie lange dauert das Projekt? Lohnt es sich, mehr Personal in dem Projekt einzusetzen?
In dem Maß, in dem unkreative Aufgaben entfallen, entsteht Raum für kreativere Arbeit. Würden Schulen und Universitäten nicht einen interessanteren Unterricht machen, wenn sie ihn regelmäßig der technischen Entwicklung anpassen, so wie sie es schon mit Taschenrechnern getan haben, damit es mehr um das “Was kann man damit machen” geht? Der Mensch lebt eben nicht mehr isoliert, sondern als Teil eines Ökosystems, in dem Technik einen festen Platz hat, ständig zugreifbar ist und immer mehr Aufgaben übernimmt, die wir früher selbst erledigen mussten. Wenn man Technik als Erweiterung der eigenen Fähigkeiten begreift, ist man in diesem Sinn durch den Zugriff auf diese Technik ein fähigerer Mensch.
Je besser und je früher Schüler und Studenten lernen, was wir mit den uns zur Verfügung stehenden Technologien machen können, desto besser sind sie für später gerüstet, desto spannendere Aufgaben können sie lösen und desto komplexere Lösungen können sie finden. Das befreit sie nicht davon, zu verstehen, welche Gleichungen die richtigen sind, aber es befreit sie von der langwierigen Arbeit, die Gleichung auszurechnen.
Durch moderne Technologien können heute Einzelpersonen Aufgaben erledigen, für die früher ganze Abteilungen von Experten nötig waren, Multimedia-Präsentationen zum Beispiel. Um ein Video zu drehen, muss ich heute nichts mehr über Filmentwicklung in der Dunkelkammer verstehen, weil mein Smartphone schnell genug rechnen kann, um selbst Videos in 4K-Auflösung aufzunehmen. Um in dem Video an einer bestimmten Stelle etwas mit einem roten Kreis hervorzuheben, muss ich selbst keine Bits berechnen, keine Registerwerte manuell in einem Prozessorkern setzen. Ohne dass ich ein entsprechendes Studium absolviert hätte, kann ich in wenigen Minuten ein Informationsvideo erstellen, das ein ganzes Unternehmen für eine bestimmte Anwendung schult. Weil ich mich dabei nicht mit einfachen, unkreativen Aufgaben beschäftigen muss, kann ich meine Zeit z.B. in einen verständlicheren roten Faden investieren.
In dem Augenblick, in dem Rechnen schnell geht, kann ich meine Energie darauf verwenden, Probleme zu lösen, für die ich schnelles Rechnen brauche. Wenn ich schnell im Kopf rechnen kann, kann ich interessantere Dinge tun, als wenn ich nur langsam rechnen kann. Wenn aber mein Smartphone noch schneller ist, als ich jemals sein werde, kann ich Probleme lösen, für die ich nicht nur schnelles, sondern super-schnelles Rechnen brauche.
Es gibt heute Ein-Mann-Startups, für die früher 10 Mitarbeiter und ein Millionenstartkapital nötig gewesen wäre. Diese eine Person vereint nicht das ganze Wissen aller 10 Personen, aber die Fähigkeit, es in einer kreativen Weise zu nutzen, um zum gleichen Ergebnis zu kommen.
Die Zahl der Jobs bei denen es auf formelhaftes Wissen ankommt, sinkt. Übrig bleiben Jobs, die gerade nicht von Computern übernommen werden können. Die gute Nachricht ist: Das sind die Jobs, die mehr Spaß machen und wertvoll sind und die heute mehr Menschen offen stehen.
Mal ehrlich: Der Untergang des Abendlandes wird seit Generationen vorhergesagt, weil die Jugend vermeintlich immer dümmer wird. Gestimmt hat das selten (überhaupt jemals?). Die Jugend ist nicht dümmer, weil sie anders lernt als wir. Sie wäre dumm, wenn sie nicht auf unserem Wissen aufbauen würde.